Was wollen Paare, die zu mir in die Therapie kommen? Was ist guter Sex? Warum kann kein Sex auch eine Lösung sein? Und was hat Paartherapie mit IKEA Regalen zu tun?

Über Liebe, Sex und andere Katastrophen habe ich mit meiner ziemlich besten Freundin, der ZEIT Journalistin Mariam Lau, ein Gespräch geführt.

https://www.zeit.de/2021/11/sexualtherapeutin-beziehung-sex-paartherapie

Interview: Mariam Lau

10. März 2021, 16:54 Uhr Editiert am 15. März 2021, 19:59 Uhr DIE ZEIT Nr. 11/2021, 11. März 2021

DIE ZEIT: In der Pandemie sind Paare mehr denn je auf sich zurückgeworfen. Merkst du das in deiner Arbeit, Julia? 

Julia Bellabarba: Die Themen haben sich stark verändert: Es gibt weniger Eifersucht, weniger Affären und deutlich mehr Aggression. 

ZEIT: Was wollen Paare von dir? 

Bellabarba: Das Spektrum reicht von Anleitung bis Absolution. Also: Helfen Sie uns, unsere Beziehung zu retten. Wie schaffen wir es, uns nicht zu zerfleischen? Sex? Wie geht das noch mal? Sagen Sie uns, dass es okay für die Kinder ist, wenn wir uns trennen. 

ZEIT: Kannst du mal ein Beispiel nennen? 

Bellabarba: Ein Paar hat eine Firma zusammen und Kinder. Der Mann ist seit einem Selbsterfahrungswochenende wahnsinnig verliebt in einen Geschäftspartner. Jetzt sitzen sie zu Hause und wünschen sich eine Anleitung, wie das gehen kann, zu dritt. Die Liebe, das Unternehmen und die Kinder, alles unter einen Hut zu bekommen, das ist ein ambitioniertes Projekt. Ich helfe dabei, die einzelnen Ebenen auseinanderzuhalten, Geschäft, Lust, Familie, und rate den Leuten, sich nicht zu viel vorzunehmen. Ansprüche und Erwartungen realistisch zu halten, das macht vieles einfacher. 

ZEIT: Deine Kollegin Esther Perel spricht von einer „Krise des Begehrens“ in den westlichen Gesellschaften, in denen es viele Tabus nicht mehr gibt. Können wir nicht wollen, was wir haben dürfen? 

Bellabarba: Ja, der große Lustmangel! Dahinter steht auch immer ein Mangel an Lust, sich für die eigene erotische Vitalität verantwortlich zu fühlen – oder zumindest mal damit zu beschäftigen. Paare übernehmen, besonders wenn sie Kinder haben, sehr viel Verantwortung. Oft zu viel. Besonders Mütter glauben, dass sie für die emotionale Befindlichkeit, die Stimmung, die Entwicklung und die allgemeine Lebenszufriedenheit der gesamten Familie zuständig sind. Das ist der absolute Verantwortungs-Overkill! Einerseits ist die Vorstellung, für andere das Glück zu regeln, verführerisch: Ich mach dich glücklich, Baby. Andererseits tödlich frustrierend, weil es nie funktioniert. Die Mischung aus permanenter Selbstüberschätzung und ständigem Scheitern ist sehr, sehr anstrengend. Und der natürliche Egoismus, den Sexualität voraussetzt, passt da überhaupt nicht rein, geschweige denn die anarchische Kraft, mit der das Begehren in den Alltag einbrechen möchte. Perel sagt ja auch „fire needs air“. Auf die momentane Situation der Paare bezogen heißt das: Da ist sehr wenig Luft im Lockdown

ZEIT: Kannst du sagen, was guter Sex ist? 

Bellabarba: Zum Glück ist die Ära der sexnormativen Vorgaben vorbei! Vor mehr als hundert Jahren haben ältere Herren uns erklärt, was der reife und der unreife weibliche Orgasmus ist – ich denke da immer an reife Bananen. Ich bin sehr froh, dass wir heute come as you are haben. Was Paare als richtig guten Sex empfinden, ist sehr unterschiedlich, das geht von gemütlich bis brutal. Ich kann Paare dabei begleiten, ihre Sexualität so zu leben, wie es für sie passt. Authentizität ist da ein gutes Stichwort, Mut zum eigenen Begehren. Dazu gehört auch Mut zum eigenen Nichtbegehren. Abends im Bett mit den Kindern einschlafen ist nicht guter Sex. Kann aber auch eine Lösung sein. 

ZEIT: Äh, wofür? 

Bellabarba: Man darf Paare nicht unterschätzen. Was die machen, ergibt meistens Sinn. Sagen wir mal, die Frau merkt: Das wird in dieser Ehe nichts mehr mit dem Sex. Der Mensch, den ich liebe, hat ein völlig anderes erotisches Skript als ich. Das ist nicht trivial, das ist eine kosmische Zumutung. Ich will kinky, er Vanilla. Sich dann abends mit den Kindern hinzulegen vermeidet zumindest die Kränkung: Dein Sex ödet mich an. 

ZEIT: Was rätst du Leuten, die keine Lust mehr aufeinander haben? 

Bellabarba: Auf keinen Fall lauern wie die Katze vor dem Mauseloch und warten, bis da eine kleine Lust rauskommt. Die Erwartungshaltung ist ja: Im Bett soll es flutschen, er soll stehen, sie soll kommen. Man will wollen, man will mehr, besser … Der eigene Körper aber sagt: Nö. Ich möchte nicht. Ich frage das Paar: Interessiert es Sie, das zu verstehen? Ich stehe dann auf der Seite der Lustlosigkeit. Ich erkläre, dass die Lust, wenn sie erst einmal weg ist, auf Befehl sicher nicht zurückkommt. Das klappt nie. Man sollte also nicht krampfhaft versuchen, wieder lustvollen Sex zu haben. Am besten gar keinen Sex. Auf keinen Fall. Auch wenn es noch so schwerfällt. Wenn die Lust weg ist, ist Sex erst mal verboten. 

ZEIT: Du verbietest ihnen Sex, und dann fallen sie übereinander her? 

Bellabarba: Genau, nach etwa zehn Minuten. (lacht) Erst unter Verbotsbedingungen kann Erotik ihr transgressives Potenzial wieder entfalten. 

ZEIT: Gibt es in Beziehungen Männerprobleme und Frauenprobleme? 

Bellabarba: Ja, würde ich schon sagen. Es gibt so eine Tendenz, Verunsicherungen in Beziehungen zu erleben, die ich geschlechtstypisch finde. Frauen fragen eher „Meinst du wirklich mich?“ und Männer „Bin ich dir gut genug?“. Es lohnt sich, diese Fragen in der Therapie aufzuspüren und daran die wechselseitige Kränkbarkeit auszuloten. 

ZEIT: Du siehst Paare aus aller Welt – ist Multikulturalität gut für das Sexleben? 

Bellabarba: Mir fällt ein deutsch-brasilianisches Paar ein, dem es gelungen ist, alle Schwierigkeiten auf kulturelle Differenzen zurückzuführen. Und sich dadurch enorm zu entlasten: „Ich nehme es nicht persönlich, dass er sich nie bedankt, das ist einfach typisch deutsch.“ Sehr kreativ. Bei einem französisch-iranischen Paar, zwei Männern, hingegen war die unterschiedliche kulturelle Prägung ein großes Problem. Der französische Partner kam nicht damit klar, dass das Bekenntnis zu der Beziehung aufseiten des iranischstämmigen Mannes sehr verhalten ausfiel: kein Händchenhalten, nie Zärtlichkeiten in der Öffentlichkeit. Und der Mann, der im Iran aufgewachsen war, schämte sich, zuzugeben, dass er immer noch unter Albträumen litt, wegen seiner Homosexualität hingerichtet zu werden. Und dafür, dass er in der Öffentlichkeit wahnsinnige Angst hatte. 

ZEIT: Bedeutet? 

Bellabarba: Alle Menschen bringen kulturelle Differenzen in die Beziehung, denn es gibt ja immer eine Familienkultur, aus der wir kommen. Ich bin sehr aufmerksam und versuche zu unterscheiden, was ist kulturelle Differenz, und wo wird der Begriff nur benutzt, um dysfunktionale Muster zu rationalisieren. Viele Paare erklären mir, sie hätten dauernd Missverständnisse aufgrund von kulturellen Unterschieden und würden deshalb permanent streiten. Meistens sind es überhaupt keine Differenzen, sondern ganz normale Machtkämpfe. Gibt’s überall. Ich frage dann: Wollen Sie recht haben oder glücklich sein? 

ZEIT: Derzeit grassiert der Begriff „toxische Männlichkeit“. Kannst du damit was anfangen? 

Bellabarba: Tägliche, nicht selten tödliche Gewalt gegen Frauen und Kinder ist ein massives Problem in Deutschland und weltweit, das ich sehr ernst nehme. Die Anzahl der Fälle steigt gerade rapide an. Und es bereitet mir große Sorgen, dass ich die Paare, die aggressiv miteinander umgehen, zurzeit nicht mehr sehe. Die müssen jetzt ihre Kinder betreuen. Auch Online-Termine können sie unter den Bedingungen der Pandemie nicht gut wahrnehmen. Therapeutisch ist der Begriff „toxische Männlichkeit“ nicht sehr ergiebig. Da finde ich den Begriff Fragilität oder Vulnerabilität passender. In meiner Arbeit treffe ich jeden Tag Männer, die glauben, im paartherapeutischen Setting keine Stimme zu haben. 

ZEIT: Ist das so? 

Bellabarba: Ja, sie sagen oft so was wie „Meine Frau ist bei uns für die Gefühle zuständig“ oder „Ich sehe das mehr so rational …“, aber auch: „Ich weiß gar nicht, was ich fühle. Und ob ich überhaupt was fühle. Und ob ich überhaupt etwas fühlen darf.“ Da muss man besprechen, was dieses emotionale Jobsharing für sie und für ihn bedeutet. In der Regel ist das ja für beide unbefriedigend. Und der Mann kommt nicht zwingend aus einer Familie, die von männlicher Gewalt und Machismo geprägt ist. Er hat vielleicht immer die Mutter getröstet, wenn Papi bei seiner Freundin war. War so ’n ganz Lieber. Und keiner hat sich um seine Bedürfnisse gekümmert, es war bequem, dass er scheinbar keine hatte. 

ZEIT: Was machst du dann? 

Bellabarba: Es ist ein Klischee, zu sagen, man müsse die Wut rauslassen, das sei gesund. Gesund für wen? Für diejenige, die die geballte Ladung abkriegt? Man muss lernen, Wut zu empfinden und in der Lage zu sein, sie nicht aggressiv auszuleben. Eine konsequente Sowohl-als-auch-Haltung. 

ZEIT: Wer leidet, hat recht? 

Bellabarba: Nee, eben nicht. Wer leidet, hat Schmerzen, nicht recht. Den Schmerz musst du erst mal verstehen. Wo kommt er her, wo will er hin? Manchmal finde ich es anrührend, wenn die Leute mir ihre Geschichte erzählen, muss selber weinen. Aber es gibt auch manipulative Strategien. Der Schmerz, den ich fühle, ergibt sich ja häufig aus dem Missverhältnis zwischen dem, was ich gerne hätte, und dem, was ich habe: Ich hätte gerne eine verständnisvolle Partnerin, aber manchmal finde ich die überhaupt nicht verständnisvoll. Dann leide ich, es ist alles so ungerecht. Ich leide so richtig schön vor mich hin, und ich meine, auch das Recht zu haben, beleidigt zu sein. Und wenn sie fragt, was ich denn habe, dann sage ich ihr, dass ich das ganz schön respektlos finde, mir gegenüber, dass sie so sein will, wie sie will, während ich doch möchte, dass sie so ist, wie ich will … 

ZEIT: Und dann? 

Bellabarba: Dann reden wir über das Nein in der Beziehung. Das ist auch ein Geschenk, so ein Nein. Es bedeutet, bei aller Frustration: Ich liebe dich, aber ich bin auch noch ich. Ich traue dir zu, das zu akzeptieren. Und ich traue unserer Liebe zu, dass wir Nein sagen können. John und Julie Gottman, Kliniker und Paarforscher seit über 40 Jahren, haben herausgefunden, dass zwei Drittel der chronischen Konflikte von Paaren nicht lösbar sind. Deal with it.

ZEIT: Wir kennen uns, seit wir 15 waren, aber ich weiß eigentlich bis heute nicht, warum genau du Paar- und Sexualtherapeutin geworden bist. 

Julia Bellabarba: Meine Eltern sind geschieden – das ist natürlich der Klassiker! Trotz dieser Trennung war für mich immer klar, was Beziehungsfähigkeit ausmacht und dass alle Schaden nehmen, wenn Dinge verleugnet oder schöngesungen werden. Du weißt, dass mein Vater Italiener war und meine Mutter Deutsche. Als Kind war es meine Aufgabe, zwischen den Welten meiner Großeltern aus Rom und der Welt in Berlin zu vermitteln. Bevor wir nach Italien gezogen sind, haben wir in Berlin-Charlottenburg gewohnt. Mein Opa saß auf dem Spielplatz und hat seine Fischernetze geflickt. Und ich habe den anderen Kindern erklärt, dass das ganz normal sei. Muss man halt machen, wenn man auf dem Meer unterwegs ist. Jedenfalls wusste ich nach der Ausbildung, dass ich mit Paaren arbeiten würde. Das hat mich am meisten interessiert. 

ZEIT: Bist du mal an einem Paar gescheitert? 

Bellabarba: Oje. Scheitern! Ich hatte mal ein Gespräch mit einem Paar in London während der Ausbildung. Die Stimmung war höchst explosiv, beide waren extrem feindselig und angespannt. Die Frau hatte gerade die Bombe gezündet und den Mann beschuldigt, eine Tochter sexuell missbraucht zu haben. Der Mann wurde noch aggressiver. Ich erinnerte mich an meinen therapeutischen Imperativ: joining! Also die Beziehung zu allen Beteiligten halten. Als ich den Mann fragte, was für ihn das gravierendste Problem sei, antwortete er „I have winds“, er hatte Blähungen. Ich war sprachlos, habe vor Überforderung angefangen zu lachen, prustend und mit hochrotem Kopf. Ich konnte nicht mehr aufhören. Es war ein Debakel. Die Sitzung war gelaufen, und das Paar ist nie mehr wiedergekommen. 

ZEIT: Also noch mal in fünf Sätzen: Wie gelingt Paartherapie? 

Bellabarba: Paartherapie ist ein co-produktiver Prozess, wie bei Ikea. Ich liefere die Bretter, das Paar macht das Paket auf und baut das Regal. Mein Motto ist: radikale Akzeptanz. Bleibt realistisch. Eine Schraube fehlt immer. 

Die Geschichten der Klienten wurden zu ihrem Schutz verfremdet.