Julia Bellabarba im Gespräch mit Annika Vater, einer jungen Kollegin, Psychologin und selbst in der systemischen Therapieausbildung.

Julia Bellabarba: Annika, ich freue mich sehr, dass du dich dafür interessierst, was ich beruflich mache und ein paar Fragen vorbereitet hast. Schieß los!

Annika Vater: Ja, ich freue mich auch und bin auch schon ganz gespannt. Ich habe auch tatsächlich im Vorfeld zu unserem Gespräch so ein bisschen in meinem Freundeskreis rumgefragt um mal zu gucken, was interessiert eigentlich die Meisten.

JB: Dann weiß ich noch besser, was Deine Generation interessieren würde!

AV: Was machst du in der Paartherapie? Was für Leute kommen da zu dir?

JB: Zunächst einmal möchte ich kurz erklären, was Paartherapie, so wie ich das verstehe, nicht ist: es ist keine Psychotherapie von zwei einzelnen Personen im selben Raum zur selben Zeit. Sondern: Gespräche mit zwei Menschen, die in einer Beziehung zu einander stehen, um zu klären, was an der Beziehung sich ändern müsste, damit es sich für diese beiden Menschen gut anfühlt.

Welche Leute kommen? Es kommen Leute aus allen möglichen Altersgruppen. Die Jüngsten waren vielleicht Anfang Zwanzig und die Ältesten vielleicht so Mitte Sechzig. Es gibt eine Häufung in der Altersgruppe zwischen Dreißig und Vierzig. Genau in diesem Zeitraum, in dem eine Menge zusammenkommt, die jeweiligen Karrieren, es werden Entscheidungen getroffen, heiraten oder nicht heiraten, Kinder… Das ist schon eine ganz schön eine anspruchsvolle Zeit für viele Menschen. Dann gibt es Themen wie Sexualität, Beziehungsgestaltung und Abgrenzung, Außenbeziehungen.

AV: Und Du machst das jetzt ja auch schon ein bisschen länger. Konntest du beobachten, dass sich die Anliegen, die Probleme mit denen Menschen zu dir kommen, verändert haben, dass es heute andere Probleme sind als vielleicht noch vor zehn, fünfzehn Jahren?

JB: Also nicht anders als vor zehn, fünfzehn Jahren. Aber auf jeden Fall anders als vor dreißig Jahren! Ich finde das ganz bemerkenswert, dass deine Generation wirklich viel früher in die Paartherapie kommt – das hat es vor dreißig Jahren in der Form nicht gegeben. Vor dreißig Jahren habe ich sehr häufig Paare gesehen, die sehr viel älter waren und die sehr viel länger in so einer Vereinsamung, Verbitterung oder Entfremdung nebeneinander her gelebt haben. Jetzt sehe ich ganz viele Paare, die am Anfang von diesem Prozess schon etwas dagegen unternehmen wollen, toll! Die haben ziemlich hohe Ansprüche an Beziehung, auch zu hohe Ansprüche zum Teil – aber gerade die Tatsache, dass ihre Ansprüche hoch sind, bringt sie auch dazu, sich ganz pragmatisch Beratung zu suchen.

AV: Du hast gerade gesagt sehr hohe Ansprüche siehst Du häufiger, vor allen Dingen auch in der jungen Generation. Gibt es auch so generell Probleme, die besonders in der jungen Generation auftreten oder unterscheiden sich die Anliegen in den Generationen? Deine Praxis ist in Berlin und das ist ja so, dass die junge Generation hier sehr viel ausprobiert.

JB: Ja, genau. Das merke ich auch, natürlich. Es gibt eine große LGBTQ Community hier in Berlin, es gibt viele Kulturen und Sprachen, und es gibt tatsächlich auch eine Offenheit für alternative Beziehungsformen. Allerdings leben die allermeisten Paare, die ich sehe, ein traditionelles Beziehungsmodell. Offene und polyamore Beziehungen kommen bei mir in der Paartherapie vor, aber nicht so häufig.

AV: Das heißt die junge Generation, vor allen Dingen mit diesen Anforderungen, alles möglichst richtig zu machen, viel unter einen Hut zu kriegen, Familie, Karriere. Und die Älteren eher mit wie bringen wir wieder ein bisschen Spritz in die Beziehung?

JB: Ja genau. Und bei den Paaren über fünfzig das Thema „Wer sind wir als Paar, wenn wir nicht mehr Eltern sind?“ Das sind dann vielleicht die, die sich zwanzig Jahre vorher als Liebespaar verloren haben, und nur für die Kinder und die Karriere gelebt haben. Und was natürlich auch eine Rolle spielt, sind Patchwork-Familienmodelle, mittlerweile ein Stück Normalität in einer Stadt wie Berlin. Da muss sehr viel verhandelt werden, und es ist sehr viel Klarheit, Verständnis und Toleranz gefordert.

Verhandlung ist zur zentralen Aufgabe vieler Paare geworden. Es gibt relativ wenig Normen oder Vorgaben, wie sind Geschlechterrollen verteilt? wie offen oder wie nicht offen soll die Beziehung sein? Vor dieser großen Freiheit, die wir alle begrüßen, steht natürlich die Frage nach Verantwortung im Vordergrund und es gibt natürlich entsprechend viel Verhandlungsmasse. Alles muss besprochen, verstanden, verhandelt und geklärt werden, weil das Normativ fehlt. Ja, und das hat einen unheimlichen Charme und gleichzeitig ist es auch tierisch anstrengend – für das Paar.

AV: Apropos Verhandlungen, das sind ja auch zwei Leute, die zu Dir kommen und vielleicht auch zwei Leute, bei denen die Ziele nicht unbedingt identisch sind. Was ist denn das Ziel so einer Paartherapie? Und kann das auch die Trennung sein?

JB: Ja, das ist interessant. Die häufigste Konstellation ist, dass zwei Leute, die zusammen sind, zu mir kommen und sagen, die Situation sieht schlimm aus, wir wollen auf jeden Fall zusammenbleiben, aber es muss sich was ändern. Dann gibt es die Situation, in der beide sagen, ich bin mir nicht sicher, wir wissen beide nicht, ob wir in dieser Beziehung bleiben wollen, wir wollen uns bei dieser Entscheidung, trennen oder nicht, Unterstützung holen. Und die dritte Ausganssituation: einer sagt, ich will mich trennen und der andere: Ich will mich auf gar keinen Fall trennen. Und da hast du zwei ganz unterschiedliche Ziele, der eine sagt ich will raus und der andere sagt, geh‘ nicht!

AV: Ich kenne das bei mir aus der psychotherapeutischen Arbeit, dass die Auftragsklärung ganz entscheidend ist, für das was dann passiert. Wie gehst Du dann damit um, wenn die zwei Personen die vor dir sitzen, ganz unterschiedliche Aufträge durchgeben?

JB: Ja, absolut, die saubere Auftragsklärung am Anfang ist wichtig. Wenn es so ist, wie ich gerade gesagt habe, einer sagt ich will mich trennen und der andere sagt, ich will mich auf gar keinen Fall trennen, dann sage ich, sie sind jetzt gerade kein Paar, sie waren es mal, vielleicht werden sie es noch mal wieder. Aber in dem Moment, in dem einer sagt, ich bin raus, mache ich keine Paartherapie – sondern: Entscheidungsberatung mit einer begrenzten Anzahl von Sitzungen, in denen beide ihre Position reflektieren können: was hält mich? Was treibt mich weg?

AV: Das ist jetzt ja das drastischste Beispiel, was man sich vorstellen kann, denke ich, die eine Person möchte sich trennen und die andere nicht. Und viel simpler gedacht könnte das ja auch schon sein, die eine Person kommt mit dem Anliegen im Bett läuft es nicht so, wie ich mir das wünschen würde und die andere Person kommt mit dem Anliegen, wir streiten uns zu viel und ich habe das Gefühl, wir ziehen nicht an einem Strang.

JB: Ja, das ist sogar meistens so, das stört überhaupt nicht. Einen Zielkonsens brauche ich nur im Hinblick auf die Frage, arbeiten wir an einer Trennung oder arbeiten wir daran, dass es sich für alle beide wieder gut anfühlt, in dieser Beziehung zu bleiben. Und dann können die Themen durchaus unterschiedlich sein. Aber wenn der eine sagt, ich will anderen Sex oder mehr Sex oder besseren Sex und der andere sagt, ich will weniger streiten oder ich will mehr Unterstützung bei der Hausarbeit, dann geht es darum, wieder Nähe und Verständnis füreinander zu empfinden. Die große Überschrift ist meistens ganz ähnlich.

AV: Wie lange arbeitet Ihr dann gemeinsam?

JB: Im Durchschnitt sehe ich die Paare fünf bis sechs Sitzungen, monatlich. Aber es gibt auch manchmal Leute, die sind einfach fix dabei, die hören sich ein, zwei Sitzungen was an, setzen das um und es ist wieder gut. Andere kommen auch mal zehn, zwölf Sitzungen und arbeiten so ganz kontinuierlich in kleinen Schritten. Ich habe da auch überhaupt keine Präferenz. Also ich weiß auch nicht, was besser ist, schnell oder langsam: Jedes Paar hat einen eigenen Rhythmus, eine eigene Geschwindigkeit.

AV: Woran würde ich als Betroffene denn merken…

JB: Wir sind alle betroffen.

AV: … dass ich eine Paartherapie brauche?

JB: Sagen wir mal, ein Paar will was verändern und nimmt sich das vor und und merkt, irgendwie schaffen wir das nicht, es wird nicht besser. Das ist ja eine interessante Situation! In so einer Situation macht es Sinn, sich Unterstützung zu holen.

AV: Hast Du eine Empfehlung für ein Buch wo Du sagst, das lohnt sich so richtig?

JB: Auf meiner Website habe ich einige Empfehlungen. Ich finde viele Bücher gut, nur sollten die Empfehlungen auch spezifisch zur Situation des Paares passen.

AV: Ein Freund hat mich gefragt – und das fand ich eine sehr spannende Frage – was ist denn eigentlich entscheidend für eine Beziehung? Ist entscheidend, wie gut zwei Menschen zusammenpassen also quasi das Match zwischen zwei Menschen oder ist es entscheidend, ob sich Menschen für eine Beziehung entscheiden und dann bereit sind, an sich und an der Beziehung zu arbeiten?

JB: Ja. Die Antwort ist ja.

AV: Das war eine Entweder-Oder-Frage.

JB: Ich weiß. Die Antwort ist ja und zwar im Sinne von: beides! Das erste wird möglicherweise überbewertet zu Lasten des zweiten. Meistens denken Menschen am Anfang, dass sie gut zusammenpassen, das fühlen alle Menschen, wenn sie verliebt sind und das muss überhaupt nicht stimmen. Aber in der initialen Verliebtheitspsychose glauben wir das. Eine Übereinstimmung im Hinblick auf Werte, auf allgemeine Lebensfragen, Lebensplanung ist ausgesprochen nützlich. Und dann wird’s aber interessant, weil, wenn das gegeben ist, haben viele Menschen die Idee, das reicht! Und das wiederum ist mit Sicherheit eine unrealistische Einschätzung, das reicht überhaupt nicht. Dann braucht es die Entscheidung, ich kümmere mich darum. Also ich habe was sehr, sehr Schönes, ein Gefühl von Liebe und ich habe auch eine Übereinstimmung, das ist ja ein großes Glück, das kriegt man ja nicht jeden Tag so hin. Und dann bleibe ich dran, ich nehme die Verantwortung ernst, Einsatz zu bringen für diese Beziehung, für diese Liebe, weil die sonst wieder flöten geht. Liebe als commodity zu betrachten, etwas, was man einfach so konsumiert, geht meistens schief.

AV: Wie ist das denn bei Liebe? Können wir das darauf übertragen, dass Liebe auch nicht nur das ist was wir einfach spüren sondern auch zu großen Teilen dann eine Entscheidung ist?

JB: Ja, absolut. Also ich würde sogar so weit gehen zu sagen, Liebe ist kein Gefühl. Das romantische Konzept von Liebe ist ein großes Problem für moderne Paare, weil da der Aspekt der Entscheidung und des Einsatzes fehlt und der ist für mich ganz zentral. Es gibt eine Form von Liebe, die bedingungslos ist und das ist die Liebe von unseren Eltern. Und wenn wir das verwechseln, wenn wir denken, Beziehungsliebe zum Partner muss so sein, wie unsere Eltern uns lieben, dann ist das fatal. Weil es komplett unrealistisch ist, wir müssen natürlich was dafür tun: wir müssen uns zeigen, wir müssen dafür antreten, wir müssen uns dafür engagieren.

AV: Du sagst, Du würdest sogar so weit gehen zu behaupten, dass Liebe kein Gefühl ist, habe ich das richtig verstanden?

JB: Ja!

AV: Was ist Liebe dann, wenn sie kein Gefühl ist?

JB: Tja, das ist schon eher so was wie eine Entscheidung. Wir sprechen ja jetzt über die Liebe zwischen zwei erwachsenen Menschen … ein ganz anderes Thema ist die Liebe, die wir für unsere Kinder empfinden oder Gottes Liebe. Aber wenn ich mir zwei erwachsene Menschen anschaue, die sich für die Liebe entscheiden, dann geht das darum etwas aufrechtzuerhalten, auch wenn das gefühlsmäßige Erleben mal nicht zur Verfügung steht. Wenn ein Paar zu mir kommt, manchmal sagt der eine: meine Liebe ist weg! Dann sage ich, das passiert, kann ja wiederkommen. Haben Sie Lust, sich das mal anzugucken, es gibt vielleicht bestimmte Voraussetzungen dafür, dass die Liebe wiederkommen könnte.

AV: Gibt es da tatsächlich so Tricks die man anwenden kann, damit Liebe zurückkommt, die irgendwie flöten gegangen ist?

JB: Nee, Tricks in der Liebe, kenne ich nicht und es gibt auch keine Love-potions oder Voodoo-Zauberei… vielleicht gibt es sie, aber davon habe ich keine Ahnung. Ich finde die Frage interessant: Haben Sie Lust, wieder mit einander in Beziehung zu treten? Wo sehen Sie Ihre Verantwortung? Was machen Sie, um das Gefühl von Liebe zu verhindern oder zu fördern? Aber wie gesagt, das ist eine Entscheidung, das muss nicht sein. Man kann auch sagen, sie ist weg und ich will sie auch nicht wieder haben, die Liebe, und das war’s. Die Paare, die zu mir kommen, sind meistens daran interessiert, etwas zu verstehen. Diese Paare wollen herausfinden, wie es wäre, wenn sie der Liebe doch noch eine Chance geben. In diesem Sinne sind meine Klienten eine positive Auswahl. Menschen, die ein Interesse daran haben, konstruktiv zu sein, trotz ihrer Verletzungen.

AV: Was sind denn so Punkte, die man sich gut angucken kann und was sind vielleicht auch Punkte, wo ran es sich gar nicht so richtig lohnt zu arbeiten?

JB: Das ist ganz sicherlich nie meine Entscheidung. Also wenn Leute sagen, wir wollen das zumindest besser verstehen, dann gehe ich mit dem Paar diesen Weg.

AV: Ich hab auf Deiner Homepage gelesen, dass es dann darum geht, Beziehungsmuster zu erkennen und die dann zu verändern. Was können denn solche Muster sein? Und wie können wir an denen arbeiten?

JB: Das häufigste Muster ist dieses unglaublich brutale Streiten. Egal, welche Differenzen, für manche Paare gibt es kein Gespräche, geschweige denn Lösungen, es gibt nur Machtkampf. Das ist ein ganz typisches Muster: ich muss gewinnen, du musst verlieren, ich habe Recht, du nicht! Das hat vielleicht ein bisschen zugenommen, aber vielleicht kommt’s mir gerade nur so vor.

Ein anderes Muster: einer will immer mehr als der andere – und umso mehr der eine will, um so weniger gibt der andere… egal, worum es geht. Sex, gemeinsame Zeit, Pünktlichkeit, Unterstützung, Freiheit: der eine fordert, der andere mauert. Und um so mehr einer mauert, desto mehr wird gefordert, umso mehr gedrängelt wird, desto mehr mauern. Klassischer Kreislauf. Einer ist immer ganz weit vorne, ganz laut, ganz intensiv, ganz heftig und der andere ist immer mehr im Rückzug und immer mehr mit dem Rücken an der Wand.

AV: Und was machst Du dann mit solchen Mustern?

JB: Mich interessiert, erst mal zu verstehen, warum es überhaupt einen Veränderungsbedarf gibt. Ich persönlich habe – außer bei Gewalt und Kindeswohlgefährdung – keine Zielsetzung. Für mich können Paare jegliche Form von Interaktion pflegen oder nicht pflegen, ich habe keinen Anspruch. Ich frage die Paare sehr genau, warum sich etwas ändern sollte. Und dann gibt es verschiedene Möglichkeiten…

AV: Nehmen wir als Beispiel den Streit.

JB: Das ist in der Tat extrem destruktiv. Also das bringt viel Verzweiflung und Angst, und auch sehr viel Scham. Die Arbeit mit diesen Paaren finde ich interessant. Am Anfang geht es darum, dieses Machtkampfmuster zu hinterfragen. Ich frage, was das mit diesem Rechthabenwollen auf sich hat. Wenn du Recht haben willst, zahlst du dafür einen Preis. Wollen Sie Recht haben oder wollen sie glücklich sein? Was wollen Sie?

AV: Und dann?

JB: Dann arbeite ich an der Kommunikationskompetenz des Paares und an ihrer Fähigkeit zur Selbstregulation. Ich erkläre, was passiert wenn sie sich in einer bestimmten Phase von Eskalation befinden, wenn sie in ihrer Wut mit Stresshormonen überflutet sind, dann müssen sie lernen, abzubrechen. Und sich abkühlen, um emotional wieder in ein Gleichgewicht kommen. Und sich wieder treffen, weitersprechen, wenn sie ruhiger sind. Es reicht aber nicht, nur die Streitfrequenz oder die Amplituden zu verringern. Das Paar muss parallel dazu wieder gute verbindende Momente schaffen. Nur nicht brutal streiten, ist noch lange keine schöne Beziehung! Das Paar muss sich auch wieder das Andere gönnen, das Schöne, das Lustige, das Verbindende, das Gemütliche, das Aufregende.

AV: Wie könnte man daran arbeiten dieses Schöne zu füttern?

JB: Das ist manchmal gar nicht so anspruchsvoll: anspruchsvolle Gespräche miteinander zu führen. Richtig intensiv zuhören, präsent sein. Sich anschauen. Nicht immer nur die Logistik, der Einkauf, die Kinder…

AV: Jetzt sind wir viel bei Paaren mit Kindern. Aber auch bei den Jüngeren gibt es festgefahrene Streitmuster.

JB: Absolut. Jüngere Paare führen genauso Machtkämpfe. Manchmal auch vor einem bestimmten beruflichen Hintergrund, sie werden vielleicht sehr gut dafür bezahlt, dass sie sich gut durchsetzen können und Recht haben, dass sie ständig challenges bewältigen und Lösungen bringen… diese Paare finden es schwer, mit dem Gefühl von Hilflosigkeit konstruktiv umzugehen.

AV: Was meinst Du damit?

JB: Stell Dir vor, wir sind ein Paar und ich wünsche mir von dir, dass du am Wochenende mit mir einen schönen Spaziergang machst und zwar regelmäßig, weil ich das so schön finde und weil wir das früher immer gemacht haben. Und du hörst dir das an und dann sagst Du: mmh, ja, ich verstehe, was du willst, aber ich will das nicht. Mir liegt das nicht, ich habe keine Lust, mir ist das jetzt zu kalt und spazieren finde ich langweilig – daher ist meine Antwort: Nein.

AV: Oha!

JB: Ja, genau. Da passiert etwas, es wird interessant. Und zwar für mich! Genau an dieser Stelle nicht loszubrüllen oder zu heulen, das ist jetzt meine Aufgabe!

AV: Da ist dein Bedürfnis genauso viel wert wie meins!

JB: Genau. Und das ist jetzt eine interessante und anspruchsvolle Situation für uns. Ich empfinde: Hilflosigkeit. Und: ich kann jetzt nicht befehlen.

AV: Blöderweise.

JB: Total! Überall kann ich das – aber hier nicht. Und dann versuche ich es – ich schreie, schmolle, heule, fordere, versuche Erpressung, alles Mögliche … und dann hast Du genau das Muster, von dem wir sprechen. Manche Menschen können das nicht ertragen: etwas nicht zu bekommen. Denn eigentlich ist Frustration, also das Nein, ein Auftrag an mich: was mache ich jetzt damit? Und dieser Auftrag, der wird nicht angenommen, sondern es wir brutal Druck gemacht, damit mein blödes Gefühl weggeht, damit ich mich dieser Hilflosigkeit nicht aussetzen muss. Und das finde ich schon bedenklich. Aber man kann das lernen. Diese Kompetenz zu haben, halte ich für ganz zentral!

AV: Also geht es auch viel darum, wenn ich das richtig verstehe, Verhaltensalternativen zu entwickeln, Denkalternativen zu entwickeln, mit frustrierten Bedürfnissen umgehen zu lernen?

JB: Das Nein in der Beziehung ist sehr interessant.  Und das überhaupt erst mal zu thematisieren, ist wichtig. Menschen haben eine Vorstellung von Liebe, die romantisch ist. In der Liebe muss es immer so sein, dass ich mich wohlfühle und wenn ich mich nicht wohlfühle, dann kann es nicht Liebe sein, dann muss ich gehen. Und es geht eher darüber, zu reflektieren, was ist denn jetzt meine Aufgabe? Ich könnte mir vorstellen meine Aufgabe wäre, das ein bisschen besser auszuhalten.

AV: Mich würde interessieren, wie Du eigentlich dazu gekommen bist Paartherapeutin zu werden?

JB: Nach dem Studium habe ich erst mal die Ausbildung systemische Paar-und Familientherapie gemacht. Die systemische Schule war damals eine Verheißung. Ich hätte mir nicht vorstellen können, mit einzelnen Klienten zu arbeiten. Ich finde, dass Beziehungen und Paare interessanter sind.

AV: Du machst ja systemische Paartherapie. Was sind da die Charakteristika, dass das systemisch ist, dass es nicht eine Paartherapie ist, die vielleicht eine Verhaltenstherapeutin anbietet?

JB: Das hat sich bei mir ein bisschen verschoben. Also es gibt durchaus Paare, mit denen arbeite ich nicht unbedingt systemisch wie du es lernst und wie ich es gelernt habe. Bei bestimmten Konstellationen arbeite ich eher verhaltenstherapeutisch, weil ich denke, die brauchen genau diese Skills und die kann ich gut vermitteln. Ansonsten ist es so, dass ich im systemischen Sinne arbeite, ich sehe immer die Zirkularität in den Beziehungsmustern, den Vulnerabilitätszirkel…

AV: Jetzt hast Du ganz viele Fachbegriffe mit reingeschmissen, Zirkularität und Vulnerabilitätszirkel… was heißt das?

JB: Zirkulär heißt, dass ich mir Kreisläufe angucke. Also ich gucke immer, wenn sie was macht, was macht das mit ihm, was macht das wieder mit ihr… Ich kann gar nicht anders denken. Und es gibt ein schönes Modell, das ist von Michele Scheinkmann, der Vulnerabilitätszirkel. Die Kränkbarkeit, die Vulnerabilität des einen Partners wirkt auf den anderen auf eine bestimmte Art und Weise, und das verstärkt wiederum die Kränkung und Vulnerabilität des anderen…. das ist genau der Kreislauf im Hinblick auf die Verletzungen.  Wenn Paare in einer Krise sind, sind sie in der Regel aggressiv gespannt und die Verletzung und Kränkung der anderen zu sehen, ist ja eine Leistung. Und eine echte Chance auf Veränderung-

AV: Gibt’s denn Momente an die Du Dich dran erinnern kannst, mit denen es Dir besonders schwer gefallen ist zurechtzukommen auch in der Therapie? Oder gibt es bestimmte Problemstellungen die immer wieder besonders herausfordernd für Dich sind?

JB: Alles ist gleich herausfordernd oder auch nicht. Manches ist sehr berührend, und macht mich selber auch traurig, dann stehen mir auch die Tränen in den Augen.

AV: Ja, das ist vielleicht auch so generell so die Schattenseite des Therapeutinnen Daseins, auch viel mit Tragischem und Traurigem konfrontiert zu sein.

JB: Ja. Aber ich sehe mich auch als sehr privilegiert. Ich sehe viele schöne Verläufe und ich habe auch eine ganz große Hochachtung davor, was viele Paare leisten in ihren schwierigen Situationen. Das finde ich zum Teil wirklich ziemlich großartig.

AV: Wir gehen aufs Ende zu. Ich habe noch eine letzte Frage zum Abschied mitgebracht und zwar, inwiefern und ob sich Dein eigenes Leben, Deine eigene Paarbeziehung verändert oder verändert hat durch Deine Arbeit als Paartherapeutin?

JB: Alle Beziehungen verändern sich über die Zeit, das geht gar nicht anders, die Veränderung ist die Konstante. Mein Mann ist ja auch Psychotherapeut und auch Systemiker, wir waren dadurch immer auch durch berufliche Themen verbunden. Und es gibt auch durchaus manchmal Tage, an denen ich’s sehr schwer fand in der Arbeit und ich mich dann auch freue, dass es bei uns Zuhause nicht so schwer ist. Ich weiß das vor dem Hintergrund meiner Arbeit schon zu schätzen.

AV: Schöner Endpunkt!

JB: Ja. Vielen Dank, Annika!